CARRY THE CANDLE. TEXTFINDUNG UND TEXTFORMUNG IN EINEM PERSÖNLICHEN ARCHIV

Thune
2023

Abstract

Es geht um die Frage, wie ein persönliches Archiv geschaffen werden kann, wenn durch die Dispersion von Dokumenten und Artefakten keine kontinuierliche Tradierung und Aufbewahrung in Situationen von Migration gewährleistet werden kann. In dem von mir 2017 gesammelten Korpus narrativer Interviews „Flucht und Emigration nach Großbritannien“ (FEGB in der Datenbank für Gesprochenes Deutsch im Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, Mannheim) habe ich 42 narrative Interviews mit jüdischen MigrantInnen in Großbritannien durchgeführt, die in den 1930er Jahren aus Nazi-Deutschland, Österreich und der damaligen Tschechoslowakei emigriert waren; 24 der Interviewten gehören zur Gruppe des Kindertransports (vgl. Thüne 2019, 2019a). Gleichzeitig habe ich 10 Männer und Frauen der 2. Generation nach ihren Erfahrungen befragt. Obwohl sich mein Interesse hauptsächlich auf Fragen des Sprachwechsels, Spracherwerbs, der Spracherhaltung und Sprachtradition in der Familie bezogen, wurde Vieles angesprochen, was weit über diesen Themenbereich hinausreichte. Die InterviewpartnerInnen sprachen von sich aus oft die Frage nach dem Verbleib von Briefen, Fotos, Gegenständen aus der Familie an, die Frage also, wie sie mit diesen Objekten umgehen. Dies betrifft die materiellen Gegenstände, aber auch die immateriellen Zeugnisse wie Erinnerungen und Erzählungen, die zusammen persönliche Archive darstellen, die nicht immer in der Familie tradiert wurden, da unterschiedliche Tabus oder Traumata wirkten. Die 2. Generation wurde dadurch mit Leerstellen in der Erinnerungsarbeit und Versprachlichung konfrontiert, vor allem auf emotionaler Dimension. Die dokumentarischen Arbeiten und literarisch-autobiografischen Texte von Ruth L. David, die im Jahr 1939 mit dem Kindertransport nach Großbritannien kam, sind für die Frage, wie ein persönliches Archiv geschaffen werden kann exemplarisch. David hat unermüdlich Briefe, Fotos und Erinnerungen aus verschiedenen Ländern zusammengetragen, denn ihre Eltern emigrierten zwar nach Frankreich, wurden aber von dort nach Auschwitz transportiert, ihre Geschwister leb(t)en in Südamerika und Frankreich. Sie hat auf der Grundlage dieses Materials und ihrer Erinnerungen eine Biographie geschrieben (zuerst auf Deutsch; David 1996 und 2002), die Briefe der Eltern sind 2008 erschienen. Außerdem hat David eine große Fotosammlung dem National Holocaust Centre in Laxton (GB) übergeben (https://www.holocaust.org.uk/ruth-david-collection). David steht immer wieder für Vorträge und Interviews in mehreren Sprachen zur Verfügung, einige sind im Internet zugänglich. Davids Bemühungen sind ein Beispiel dafür, wie eine Einzelne aus der Familie der Dispersion der Gegenstände und Erinnerungen durch mündliche und schriftliche Narrationen, historische Kommentierungen und Übersetzungen entgegenarbeitet (vgl. Jordan, Leff, Schlör 2014). Ihre Narrationen haben primär dokumentarischen Charakter und zielen darauf, aus der persönlichen eine kulturelle und letztlich kollektiv geteilte Erinnerung zu schaffen (vgl. Assmann 1996). Trägerin der kulturellen Erinnerung ist zunächst die Familie. In diesem Fall zeigen sich die Schwierigkeiten dieser direkten Traditionslinie durch den Bruch der Shoah und Migration. Dabei spielt auch der Sprachwechsel eine Rolle. Englisch wurde Brückensprache innerhalb der Familie, denn vor allem die 2. Generation hat Deutsch nicht mehr als Familiensprache gelernt. Ein Teil der persönlichen Dokumente gehört nun nicht mehr der 2. Generation, da sie in einem öffentlichen Archiv deponiert wurden. Für die 2. Generation entstehen dadurch eine Reihe von Anschlussfragen.
2023
Thune
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Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11585/955318
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