Kaum eine geistes- und kulturwissenschaftliche Disziplin hat in Italien in solchem Ausmaß unter Selbstdarstellungs- und Rechtfertigungszwang gestanden und sich über so heftige Widerstände hinwegsetzen müssen wie die Komparatistik. Die Vorherrschaft der Italianistik war sicherlich eine der Hauptursachen, so könnte man mit Eber¬hard Lämmert argumentieren, „für die Zementierung der Fächergrenzen gegenüber innerwissen¬schaftlichen Entwicklungen“ und sie ließ „allenfalls noch Anbauten, aber kaum mehr General¬verschiebungen im Zuschnitt der Fächer zu“. Eine fast unüberwindliche Kluft klaffte zwischen den theoretischen For¬derungen wie dem Herbeiführen eines Perspektivenwechsels in der praktischen Reflexion und Inszenierung fachlicher Differenz auf der einen Seite und der fast ethnologischen Untersuchung der eigenen Literatur(geschichte) auf der anderen. Im Gegensatz etwa zum amerikanischen Universitätssystem beruhte das italienische Hochschul-system noch bis vor kurzem auf dem Lehrstuhlprinzip. Die finanzielle und vor allem die personelle Verfügungsgewalt lag bei den einzelnen Ordinarien, die durch lokale Stellenaus-schreibungen mittels einer zwar gewählten, aber vorher abgesprochenen Kommission den/die jeweiligen internen Wunschkan¬di¬da¬ten (be)förderten. Hausberufungen waren an der Tagesordnung. Die professorale Monokratie, die in diesen Jahren massiv ausgebaut worden war, verhinderte kooperatives Verhalten und Gnisci sah sich als professore associato (auch seconda fascia genannt, vergleichbar einer C 3-/W2-Professur) nicht nur einem undifferenzierten Selbstverständnis der Nationalphilologen gegenüber ausgesetzt, sondern auch nicht in der Lage, aktiv in die Auswahl des wissenschaftlichen Nachwuchses und damit direkt in die institutionelle Profilierung des Faches über die lokale Ebene hinaus einzu¬greifen. Diese wissenschaftswidrige Organisationsstruktur wurde zwar 2010 mit dem neuen Hochschul¬rahmengesetz (Legge 30 dicembre 2010, n. 240) reformiert, wobei u.a. die Ausschreibungen der Professorenstellen („abilitazione“) von der lokalen auf die nationale Ebene verlegt wurden. Doch für Armando Gnisci und seine SchülerInnen kam sie zu spät. Nur wenigen von ihnen gelang der Sprung in die akademische Lehre. Nicht Meritokratie, sondern Seilschaften beherrschten jahrzehntelang die italienische Hochschullandschaft, nicht nur in der Komparatistik.

Komparatistik in Italien – heute

MORALDO, SANDRO
2016

Abstract

Kaum eine geistes- und kulturwissenschaftliche Disziplin hat in Italien in solchem Ausmaß unter Selbstdarstellungs- und Rechtfertigungszwang gestanden und sich über so heftige Widerstände hinwegsetzen müssen wie die Komparatistik. Die Vorherrschaft der Italianistik war sicherlich eine der Hauptursachen, so könnte man mit Eber¬hard Lämmert argumentieren, „für die Zementierung der Fächergrenzen gegenüber innerwissen¬schaftlichen Entwicklungen“ und sie ließ „allenfalls noch Anbauten, aber kaum mehr General¬verschiebungen im Zuschnitt der Fächer zu“. Eine fast unüberwindliche Kluft klaffte zwischen den theoretischen For¬derungen wie dem Herbeiführen eines Perspektivenwechsels in der praktischen Reflexion und Inszenierung fachlicher Differenz auf der einen Seite und der fast ethnologischen Untersuchung der eigenen Literatur(geschichte) auf der anderen. Im Gegensatz etwa zum amerikanischen Universitätssystem beruhte das italienische Hochschul-system noch bis vor kurzem auf dem Lehrstuhlprinzip. Die finanzielle und vor allem die personelle Verfügungsgewalt lag bei den einzelnen Ordinarien, die durch lokale Stellenaus-schreibungen mittels einer zwar gewählten, aber vorher abgesprochenen Kommission den/die jeweiligen internen Wunschkan¬di¬da¬ten (be)förderten. Hausberufungen waren an der Tagesordnung. Die professorale Monokratie, die in diesen Jahren massiv ausgebaut worden war, verhinderte kooperatives Verhalten und Gnisci sah sich als professore associato (auch seconda fascia genannt, vergleichbar einer C 3-/W2-Professur) nicht nur einem undifferenzierten Selbstverständnis der Nationalphilologen gegenüber ausgesetzt, sondern auch nicht in der Lage, aktiv in die Auswahl des wissenschaftlichen Nachwuchses und damit direkt in die institutionelle Profilierung des Faches über die lokale Ebene hinaus einzu¬greifen. Diese wissenschaftswidrige Organisationsstruktur wurde zwar 2010 mit dem neuen Hochschul¬rahmengesetz (Legge 30 dicembre 2010, n. 240) reformiert, wobei u.a. die Ausschreibungen der Professorenstellen („abilitazione“) von der lokalen auf die nationale Ebene verlegt wurden. Doch für Armando Gnisci und seine SchülerInnen kam sie zu spät. Nur wenigen von ihnen gelang der Sprung in die akademische Lehre. Nicht Meritokratie, sondern Seilschaften beherrschten jahrzehntelang die italienische Hochschullandschaft, nicht nur in der Komparatistik.
2016
Sandro Moraldo
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