Mehr als jedes andere Motiv thematisiert und problematisiert der Doppelgänger die komplexen psychischen, sozialen und gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen von individueller Identität. Den vielfältigen Schnittstellen und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Bestimmungsfaktoren hat die Komparatistik dann in zahlreichen Arbeiten im Kontext (nicht nur) der Literatur Rechnung getragen. Hierbei ging es meist um die Erstellung einer zur Typologie hin tendierenden Phänomenologie seiner Erscheinungsformen, sowie um eine schematische Übersicht der Motivvarianten und ihrer Funktionen. Neben Jean Paul ist es vor allem E.T.A. Hoffmann zu verdanken, dass das Motiv in der Romantik einen literarischen Höhepunkt erreicht. In Erzählungen und Romanen hat er dem aus der Antike geerbten Motiv neue Impulse gegeben. In seinem Capriccio 'Prinzessin Brambilla' (1821) wird die in den Serapionsbrüdern so meisterhaft ausgearbeitete und dem Leser so anschaulich vor Augen geführte Weltanschauung der Duplizität des Seins direkt mit der Doppelgängerthematik gekoppelt und inhaltlich dann theoretisch wie begrifflich am chronischen Dualismus festgemacht. Die Romantik ist sicherlich die Epoche, in der motivgeschichtlich ein Paradigmenwechsel vollzogen wird. Sie schlägt nicht nur eine Brücke in die Vergangenheit, sondern wirft ihre dunklen Schatten auch auf die Zukunft voraus. Ob als Zwillingskomödie eines Plautus ('Menaechmi' 206 v. Chr.) oder Shakespeare ('The Comedy of Errors' 1590/93), poetische Ich-Reflexion eines gespaltenen romantischen Bewusstseins in E.T.A. Hoffmanns Werken (u.a. 'Die Elixiere des Teufels' 1815/16; 'Prinzessin Brambilla' 1821) oder als neuzeitlich geklontes Double in Romanen von Ken Follett ('The Third Twin' 1996), Kazuo Ishiguro ('Never Let Me Go' 2005) u.a.: Das Motiv weist eine lange literarische Tradition auf und hat von seiner Faszination bis heute nichts verloren. Im Gegensatz aber zur Antike, in der getrennt aufgewachsenen Zwillingen, die Doppelgänger-Ausprägung par excellence, immerhin noch eine Individualität zugestanden, unabhängig vom alter ego entwickelt und nur für kurze Zeit aufgrund von Verwechslungen und Missverständnissen in Frage gestellt wurde, setzte die Romantik die Individualität von Doppelgängern einer regelrechten Zerreißprobe aus. Doppelgänger werden in diesem Kontext als zwei Personifikationen ein und desselben Wesens betrachtet, dessen gespaltene Einheit in einer neuen, höheren komplementären Identität überwunden werden sollte. Spätestens seit Stevensons 'The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde' (1889) ist diese, die Individualität des Menschen bedrohende Schreckensvorstellung einer unaufhebbaren Teilung, Wirklichkeit geworden und die literarisch bereits vollzogene Horrorvision eines im Labor geklonten menschlichen Doubles auch in der Wirklichkeit in greifbare Nähe gerückt. Wie lange noch wird sich der Wahn eines mad scientists, als dessen Prototyp Victor Frankenstein in die Annalen der Literaturgeschichte eingegangen ist, an der materiellen Wirklichkeit seiner Objekte brechen? Die seit Jahrhunderten sich ausbreitenden Visionen vom perfekten Menschen finden zwar (noch) nicht in der Realität, dafür umso mehr in der Fiktion nahrhaften Boden. In meinem Beitrag wurden zwei Erzählungen untersucht, 'Die Menschenfabrik' von Oskar Panizza und 'Marionettes, Inc.' von Ray Bradbury, die das Thema des artifiziellen menschlichen Doubles unter verschiedenen Perspektiven literarisch verarbeitet haben. Beide Erzählungen erlauben zugleich einen – wenn auch nur partiellen – Einblick in die variantenreiche Darstellung und Phänomenologie des Motivs.
Sandro M. Moraldo (2006). Der Mensch und sein artifizielles Double. Formen humaner Reproduzierbarkeit in Oskar Panizzas «Die Menschenfabrik» und Ray Bradburys «Marionettes, Inc.». COMPARATISTICA, 15, 147-162.
Der Mensch und sein artifizielles Double. Formen humaner Reproduzierbarkeit in Oskar Panizzas «Die Menschenfabrik» und Ray Bradburys «Marionettes, Inc.»
MORALDO, SANDRO
2006
Abstract
Mehr als jedes andere Motiv thematisiert und problematisiert der Doppelgänger die komplexen psychischen, sozialen und gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen von individueller Identität. Den vielfältigen Schnittstellen und Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Bestimmungsfaktoren hat die Komparatistik dann in zahlreichen Arbeiten im Kontext (nicht nur) der Literatur Rechnung getragen. Hierbei ging es meist um die Erstellung einer zur Typologie hin tendierenden Phänomenologie seiner Erscheinungsformen, sowie um eine schematische Übersicht der Motivvarianten und ihrer Funktionen. Neben Jean Paul ist es vor allem E.T.A. Hoffmann zu verdanken, dass das Motiv in der Romantik einen literarischen Höhepunkt erreicht. In Erzählungen und Romanen hat er dem aus der Antike geerbten Motiv neue Impulse gegeben. In seinem Capriccio 'Prinzessin Brambilla' (1821) wird die in den Serapionsbrüdern so meisterhaft ausgearbeitete und dem Leser so anschaulich vor Augen geführte Weltanschauung der Duplizität des Seins direkt mit der Doppelgängerthematik gekoppelt und inhaltlich dann theoretisch wie begrifflich am chronischen Dualismus festgemacht. Die Romantik ist sicherlich die Epoche, in der motivgeschichtlich ein Paradigmenwechsel vollzogen wird. Sie schlägt nicht nur eine Brücke in die Vergangenheit, sondern wirft ihre dunklen Schatten auch auf die Zukunft voraus. Ob als Zwillingskomödie eines Plautus ('Menaechmi' 206 v. Chr.) oder Shakespeare ('The Comedy of Errors' 1590/93), poetische Ich-Reflexion eines gespaltenen romantischen Bewusstseins in E.T.A. Hoffmanns Werken (u.a. 'Die Elixiere des Teufels' 1815/16; 'Prinzessin Brambilla' 1821) oder als neuzeitlich geklontes Double in Romanen von Ken Follett ('The Third Twin' 1996), Kazuo Ishiguro ('Never Let Me Go' 2005) u.a.: Das Motiv weist eine lange literarische Tradition auf und hat von seiner Faszination bis heute nichts verloren. Im Gegensatz aber zur Antike, in der getrennt aufgewachsenen Zwillingen, die Doppelgänger-Ausprägung par excellence, immerhin noch eine Individualität zugestanden, unabhängig vom alter ego entwickelt und nur für kurze Zeit aufgrund von Verwechslungen und Missverständnissen in Frage gestellt wurde, setzte die Romantik die Individualität von Doppelgängern einer regelrechten Zerreißprobe aus. Doppelgänger werden in diesem Kontext als zwei Personifikationen ein und desselben Wesens betrachtet, dessen gespaltene Einheit in einer neuen, höheren komplementären Identität überwunden werden sollte. Spätestens seit Stevensons 'The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde' (1889) ist diese, die Individualität des Menschen bedrohende Schreckensvorstellung einer unaufhebbaren Teilung, Wirklichkeit geworden und die literarisch bereits vollzogene Horrorvision eines im Labor geklonten menschlichen Doubles auch in der Wirklichkeit in greifbare Nähe gerückt. Wie lange noch wird sich der Wahn eines mad scientists, als dessen Prototyp Victor Frankenstein in die Annalen der Literaturgeschichte eingegangen ist, an der materiellen Wirklichkeit seiner Objekte brechen? Die seit Jahrhunderten sich ausbreitenden Visionen vom perfekten Menschen finden zwar (noch) nicht in der Realität, dafür umso mehr in der Fiktion nahrhaften Boden. In meinem Beitrag wurden zwei Erzählungen untersucht, 'Die Menschenfabrik' von Oskar Panizza und 'Marionettes, Inc.' von Ray Bradbury, die das Thema des artifiziellen menschlichen Doubles unter verschiedenen Perspektiven literarisch verarbeitet haben. Beide Erzählungen erlauben zugleich einen – wenn auch nur partiellen – Einblick in die variantenreiche Darstellung und Phänomenologie des Motivs.I documenti in IRIS sono protetti da copyright e tutti i diritti sono riservati, salvo diversa indicazione.