Ein ,acte gratuit’ ist eine Handlung, die sich weder begründen noch motivieren lässt. Geprägt wurde der Begriff von dem franz. Schriftsteller André Gide in seinem Werk Prométhée mal enchaîné (1899). Literarisch entfaltet hat er ihn dann in der Sotie Les Caves du Vatican. Seit dem Erscheinen dieses Buches 1914 gibt das Verhalten der Hauptfigur Lafcadio, der einen Mitreisenden scheinbar ohne erkennbaren Grund aus dem Zug stößt, dem Leser und Interpreten Rätsel auf. Konzipiert als „unerklärliche Tat, die die Suche nach Bedeutung provoziert und als Schmelztiegel eines semantischen Feldes, das dieser potentiell endlosen Suche nach Bedeutung die Richtung weist“ (12), hat Gide mit diesem Terminus technicus ein komplexes Problem der Gesellschafts- und Kulturgeschichte auf den Begriff gebracht. Auch das Interesse der vorl. Arbeit (zugl. FU Berlin, Diss., 2008) gilt der „ambivalente[n] Denkfigur der Grundlosigkeit und Zweckfreit“ (11) aus Gides Text. Im Gegensatz aber zu früheren motivgeschichtlichen Untersuchungen werden hier auch etymologische Argumentationen ins Feld geführt, die den Begriff ,gratuit’ auf seinen lat. Ursprung ,gratia’ zurückführen. Demnach sind Grundlosigkeit und Zweckfreiheit auch Merkmale, die der Gabe, Gnade und Grazie zukommen und so die Bedeutungspalette des ,acte gratuit’ um entscheidende Argumentationsmuster erweitern. Zusammen mit der Motivlosigkeit, dem Unfall und der Rebellion bilden sie den Themenkomplex, der hauptsächlich die Idee der Grundlosigkeit und Motivlosigkeit determiniert. Prägnant und klar arbeitet die Verf. diese einzelnen Bedeutungsnuancen heraus und erläutert sie ausgehend von Gides Les Caves du Vatican dann jeweils exemplarisch an zahlreichen Schlüsseltexten. Neben Werken von Thomas De Quincey, Oscar Wilde, Bret Easton Ellis und Joseph Conrad dienen auch Friedrich Schillers Die Räuber und E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann dem Nachvollzug einer Entwicklungslinie, die sich im 19. Jh. herauskristallisiert, „um anschließend in Variationen fortgeschrieben zu werden“ (83).

Sandro Moraldo (2011). Iris Roebling: Acte gratuit. Variationen einer Denkfigur von André Gide. GERMANISTIK, 52. Heft 1/2, 177-177.

Iris Roebling: Acte gratuit. Variationen einer Denkfigur von André Gide

MORALDO, SANDRO
2011

Abstract

Ein ,acte gratuit’ ist eine Handlung, die sich weder begründen noch motivieren lässt. Geprägt wurde der Begriff von dem franz. Schriftsteller André Gide in seinem Werk Prométhée mal enchaîné (1899). Literarisch entfaltet hat er ihn dann in der Sotie Les Caves du Vatican. Seit dem Erscheinen dieses Buches 1914 gibt das Verhalten der Hauptfigur Lafcadio, der einen Mitreisenden scheinbar ohne erkennbaren Grund aus dem Zug stößt, dem Leser und Interpreten Rätsel auf. Konzipiert als „unerklärliche Tat, die die Suche nach Bedeutung provoziert und als Schmelztiegel eines semantischen Feldes, das dieser potentiell endlosen Suche nach Bedeutung die Richtung weist“ (12), hat Gide mit diesem Terminus technicus ein komplexes Problem der Gesellschafts- und Kulturgeschichte auf den Begriff gebracht. Auch das Interesse der vorl. Arbeit (zugl. FU Berlin, Diss., 2008) gilt der „ambivalente[n] Denkfigur der Grundlosigkeit und Zweckfreit“ (11) aus Gides Text. Im Gegensatz aber zu früheren motivgeschichtlichen Untersuchungen werden hier auch etymologische Argumentationen ins Feld geführt, die den Begriff ,gratuit’ auf seinen lat. Ursprung ,gratia’ zurückführen. Demnach sind Grundlosigkeit und Zweckfreiheit auch Merkmale, die der Gabe, Gnade und Grazie zukommen und so die Bedeutungspalette des ,acte gratuit’ um entscheidende Argumentationsmuster erweitern. Zusammen mit der Motivlosigkeit, dem Unfall und der Rebellion bilden sie den Themenkomplex, der hauptsächlich die Idee der Grundlosigkeit und Motivlosigkeit determiniert. Prägnant und klar arbeitet die Verf. diese einzelnen Bedeutungsnuancen heraus und erläutert sie ausgehend von Gides Les Caves du Vatican dann jeweils exemplarisch an zahlreichen Schlüsseltexten. Neben Werken von Thomas De Quincey, Oscar Wilde, Bret Easton Ellis und Joseph Conrad dienen auch Friedrich Schillers Die Räuber und E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann dem Nachvollzug einer Entwicklungslinie, die sich im 19. Jh. herauskristallisiert, „um anschließend in Variationen fortgeschrieben zu werden“ (83).
2011
Sandro Moraldo (2011). Iris Roebling: Acte gratuit. Variationen einer Denkfigur von André Gide. GERMANISTIK, 52. Heft 1/2, 177-177.
Sandro Moraldo
File in questo prodotto:
Eventuali allegati, non sono esposti

I documenti in IRIS sono protetti da copyright e tutti i diritti sono riservati, salvo diversa indicazione.

Utilizza questo identificativo per citare o creare un link a questo documento: https://hdl.handle.net/11585/118515
 Attenzione

Attenzione! I dati visualizzati non sono stati sottoposti a validazione da parte dell'ateneo

Citazioni
  • ???jsp.display-item.citation.pmc??? ND
  • Scopus ND
  • ???jsp.display-item.citation.isi??? ND
social impact