Der Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität, d.h. sprachlicher, ethnischer, ökonomischer, kultureller und religiöser Vielfalt, ist angesichts zunehmender Internationalisierung, Globalisierung und Migration längst zu einem relevanten Diskurs in weltliterarischer Perspektive avanciert. Viele AutorInnen, die ihre ‚literarische‘ und d.h. auch ‚sprachliche‘ Heimat verlassen haben und in die Fremde migriert sind, sind sowohl für die allgemeine und vergleichende Literatur- als auch kontrastive Sprachwissenschaft relevant geworden. Zum einen sind sie selbst ein Musterbeispiel dafür, wie einst historisch fundierte Identitäten im Zuge der Zuwanderungswellen und Globalisierungs-Mobilität ihres Anachronismus überführt werden. In einer Zeit, in der kein Mensch mehr „mit einer strengen linearen Biographie aufwarten kann“, ist ihre Lebensgeschichte der Inbegriff eines „irregulären Lebenslauf[es]“ (Feridun Zaimoglu). Im deutschsprachigen Raum zugewanderte Autoren verstehen sich als literarische Vertreter einer postkolonialen, hybriden Mischkultur, als exemplarische Figur des Dritten, die Grenzen sowie Widersprüche binärer und essentialistischer Strukturen offenlegt. Zum anderen ist bei den meisten von ihnen das Schreiben von einer Mehrsprachigkeit geprägt. Die Internationalisierung der Gesellschaft hat den Kontakt unter den Sprachgemeinschaften in bis dahin kaum gekannten Ausmaß gefördert und die scheinbar klaren Grenzen in Frage gestellt, innerhalb derer man sich einer Sprachgemeinschaft zugehörig fühlte oder nicht. AutorInnen verschiedenster nationaler Herkunft schreiben ihre Texte in einer Literatursprache, die der aus Polen stammende Autor Artur Becker als ‚Dienstsprache‘ bezeichnet hat. Diese wird auf die unterschiedlichste Art und Weise erfahren. Für die einen hat sie etwas herausfordernd Faszinierendes (etwa für Marica Bodrožić, für die die Fremdsprache „eine ganz neue und andere Welt in sich bereit hält, wie jede Sprache es tut, da sie mit Erfahrungsräumen, Traditionen, Denkweisen verbunden ist und jeder, der in sie stößt, muss sie erobern, muss sie spüren, fühlen, berühren - anders wird man nicht Teil davon“), für die anderen dagegen werden dadurch Machtverhältnisse etabliert, gerechtfertigt und bekräftigt (cfr. Olga Grjasnowa: „Sprachen bedeuteten Macht. Wer kein Deutsch sprach, hatte keine Stimme, und wer bruchstückhaft sprach, wurde überhört“). Diese Stellungnahmen stehen für ein weitgespanntes Wahrnehmungsspektrum, das weder nationale noch kulturelle Grenzen kennt. Fakt ist, dass im Zuge dieser „Vieldimensionalität des Wandels“ (Wolfgang Welsch) der literarische Text nicht mehr „als Repräsentant eines in sich geschlossenen, sprach- oder nationalkulturellen Bedingungsgefüges konzipiert [wird], sondern als Ausdruck komplexer kultureller Grenzüberschreitungen und transkultureller Verflechtungen“. (Birgit Neumann) Im Spannungsfeld zwischen den Literatur-Sprachen entsteht so ein sprachästhetischer, -politischer und -theoretischer Raum, der von den Betroffenen auf unterschiedliche Weise besetzt, thematisiert, verwendet, ausgelotet und schließlich neu verortet wird. Viele schreiben abwechselnd in ihrer Herkunfts- oder ‚Dienstsprache‘, andere wiederum loten den kreativen und höchst systematischen Umgang mit Sprache in Form von Mischäußerungen aus. Im Zuge der ethnischen Differenz zur Mehrheitsgesellschaft werden aber auch biographische Zerrissenheit heimatlos sich fühlender AutorInnen, experimentelle Wortkunst, poetische Widerständigkeit, die Auflösung homogener Sprachordnungen und tradierter Erzählformen thematisch abgehandelt. Daran anschließend sollen in der Gruppenveranstaltung anhand von Beispielen aus dem deutschsprachigen literarischen Kanon neben Beiträgen zur Diskussion der Begrifflichkeit (Migrationsliteratur, Migrantenliteratur, transnationale bzw. transkulturelle Literatur, Literatur der Fremde etc.) auch und vor allem folgende oder ähnliche Fragestellungen im Vordergrund stehen: Wie stehen migrierte AutorInnen dem Phänomen des Sprachwechsels gegenüber? Welche Bedeutung hat der Sprachwechsel für ihr poetologisches Selbstverständnis? Publizieren AutorInnen, die sowohl in ihrer Herkunfts- wie Dienstsprache schreiben, jeweils unterschiedliche Texte? Welche Form sprachlicher Kommunikation (Codeswitching, Mischsprache etc.) wählen literarische ProtagonistInnen, deren Herkunft und Sozialisation nicht mehr eindeutig einer bestimmten Kultur und Nation zuzuordnen sind, bei der Aushandlung von Identitätskonstruktionen? Wie wird das Thema der Migration sprachlich kodiert? Welche Funktionen übernehmen neue, hybride Erzähltraditionen? Wie wird die Hybridisierung des Erzählens realisiert? etc.

Sandro M. Moraldo (2022). Sprache der Migration – Migration der Sprache. Sprachidentitäten und transkulturelle Literatur im Zeitalter der Globalisierungsprozesse. Bern : Peter Lang [10.3726/b19960].

Sprache der Migration – Migration der Sprache. Sprachidentitäten und transkulturelle Literatur im Zeitalter der Globalisierungsprozesse

Sandro M. Moraldo
2022

Abstract

Der Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität, d.h. sprachlicher, ethnischer, ökonomischer, kultureller und religiöser Vielfalt, ist angesichts zunehmender Internationalisierung, Globalisierung und Migration längst zu einem relevanten Diskurs in weltliterarischer Perspektive avanciert. Viele AutorInnen, die ihre ‚literarische‘ und d.h. auch ‚sprachliche‘ Heimat verlassen haben und in die Fremde migriert sind, sind sowohl für die allgemeine und vergleichende Literatur- als auch kontrastive Sprachwissenschaft relevant geworden. Zum einen sind sie selbst ein Musterbeispiel dafür, wie einst historisch fundierte Identitäten im Zuge der Zuwanderungswellen und Globalisierungs-Mobilität ihres Anachronismus überführt werden. In einer Zeit, in der kein Mensch mehr „mit einer strengen linearen Biographie aufwarten kann“, ist ihre Lebensgeschichte der Inbegriff eines „irregulären Lebenslauf[es]“ (Feridun Zaimoglu). Im deutschsprachigen Raum zugewanderte Autoren verstehen sich als literarische Vertreter einer postkolonialen, hybriden Mischkultur, als exemplarische Figur des Dritten, die Grenzen sowie Widersprüche binärer und essentialistischer Strukturen offenlegt. Zum anderen ist bei den meisten von ihnen das Schreiben von einer Mehrsprachigkeit geprägt. Die Internationalisierung der Gesellschaft hat den Kontakt unter den Sprachgemeinschaften in bis dahin kaum gekannten Ausmaß gefördert und die scheinbar klaren Grenzen in Frage gestellt, innerhalb derer man sich einer Sprachgemeinschaft zugehörig fühlte oder nicht. AutorInnen verschiedenster nationaler Herkunft schreiben ihre Texte in einer Literatursprache, die der aus Polen stammende Autor Artur Becker als ‚Dienstsprache‘ bezeichnet hat. Diese wird auf die unterschiedlichste Art und Weise erfahren. Für die einen hat sie etwas herausfordernd Faszinierendes (etwa für Marica Bodrožić, für die die Fremdsprache „eine ganz neue und andere Welt in sich bereit hält, wie jede Sprache es tut, da sie mit Erfahrungsräumen, Traditionen, Denkweisen verbunden ist und jeder, der in sie stößt, muss sie erobern, muss sie spüren, fühlen, berühren - anders wird man nicht Teil davon“), für die anderen dagegen werden dadurch Machtverhältnisse etabliert, gerechtfertigt und bekräftigt (cfr. Olga Grjasnowa: „Sprachen bedeuteten Macht. Wer kein Deutsch sprach, hatte keine Stimme, und wer bruchstückhaft sprach, wurde überhört“). Diese Stellungnahmen stehen für ein weitgespanntes Wahrnehmungsspektrum, das weder nationale noch kulturelle Grenzen kennt. Fakt ist, dass im Zuge dieser „Vieldimensionalität des Wandels“ (Wolfgang Welsch) der literarische Text nicht mehr „als Repräsentant eines in sich geschlossenen, sprach- oder nationalkulturellen Bedingungsgefüges konzipiert [wird], sondern als Ausdruck komplexer kultureller Grenzüberschreitungen und transkultureller Verflechtungen“. (Birgit Neumann) Im Spannungsfeld zwischen den Literatur-Sprachen entsteht so ein sprachästhetischer, -politischer und -theoretischer Raum, der von den Betroffenen auf unterschiedliche Weise besetzt, thematisiert, verwendet, ausgelotet und schließlich neu verortet wird. Viele schreiben abwechselnd in ihrer Herkunfts- oder ‚Dienstsprache‘, andere wiederum loten den kreativen und höchst systematischen Umgang mit Sprache in Form von Mischäußerungen aus. Im Zuge der ethnischen Differenz zur Mehrheitsgesellschaft werden aber auch biographische Zerrissenheit heimatlos sich fühlender AutorInnen, experimentelle Wortkunst, poetische Widerständigkeit, die Auflösung homogener Sprachordnungen und tradierter Erzählformen thematisch abgehandelt. Daran anschließend sollen in der Gruppenveranstaltung anhand von Beispielen aus dem deutschsprachigen literarischen Kanon neben Beiträgen zur Diskussion der Begrifflichkeit (Migrationsliteratur, Migrantenliteratur, transnationale bzw. transkulturelle Literatur, Literatur der Fremde etc.) auch und vor allem folgende oder ähnliche Fragestellungen im Vordergrund stehen: Wie stehen migrierte AutorInnen dem Phänomen des Sprachwechsels gegenüber? Welche Bedeutung hat der Sprachwechsel für ihr poetologisches Selbstverständnis? Publizieren AutorInnen, die sowohl in ihrer Herkunfts- wie Dienstsprache schreiben, jeweils unterschiedliche Texte? Welche Form sprachlicher Kommunikation (Codeswitching, Mischsprache etc.) wählen literarische ProtagonistInnen, deren Herkunft und Sozialisation nicht mehr eindeutig einer bestimmten Kultur und Nation zuzuordnen sind, bei der Aushandlung von Identitätskonstruktionen? Wie wird das Thema der Migration sprachlich kodiert? Welche Funktionen übernehmen neue, hybride Erzähltraditionen? Wie wird die Hybridisierung des Erzählens realisiert? etc.
2022
Wege der Germanistik in transkultureller Perspektive. Akten des XIV. Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik
363
371
Sandro M. Moraldo (2022). Sprache der Migration – Migration der Sprache. Sprachidentitäten und transkulturelle Literatur im Zeitalter der Globalisierungsprozesse. Bern : Peter Lang [10.3726/b19960].
Sandro M. Moraldo
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