Jeder erinnert sich an der [Es ist wohlbekannt die] Polemik die auf die Verabschiedung der neuen europäischen Verfassung und auf die ausstehende Erwähnung der „christlichen Wurzeln“ Europas folgte. Die neue Verfassungsurkunde tritt am 1. Dezember 2009 in Kraft und wurde von dem Nizza-Vertrag vorausgegangen, den der europäische Rat am 11. Dezember 2000, zusammen mit der „Charta der Grundrechten der europäischen Union“, angenommen hatte. Schon von diesen ersten Akten an erhob die katholische Welt, mit einer Reihe von maßgebenden Stellungnahmen, ihren Einwand gegen die ausstehend ausdrückliche Anerkennung der „christlichen Wurzeln“ Europas. In einem Dokument von den Mitgliedern der Kommission der Episcopalkonferenzen der Staaten der europäischen Union am 22. Mai 2002 unterschrieben, kann man lesen: «Die zukünftige Verfassung der europäischen Union muss einen Hinweis auf Gott und das Transzendente enthalten»; die Anerkennung selbst der Grundrechten der europäischen Bürgern muss «auf die Anerkennung der menschlichen Würde und ihrer Beziehungen auf die Grundlage der Familie als Grund der Gesellschaft» begründet werden. Es ist überraschend, dass in der darauffolgenden Debatte der Name Nietzsches beinahe abwesend geblieben ist. Um so überraschender, weil solche Debatte nicht nur auf eine journalistische Ebene sich abgespielt hat, sondern sie hat Intellektuellen ersten Rangs und überhaupt die gebildeten Schichten Europas verwickelt hat. Das ist ein offenbares Merkmal dafür, dass das Denken Nietzsches gewiss ein geteilter Umstand des gemeinen Wissens ist und seine bekanntesten Lehren (der Übermensch, die ewige Wiederkehr des Gleichen, der Wille zur Macht usw.) nunmehr fast zu Gemeinplätzen geworden sind, doch ein grosser Teil seiner Reflexion noch terra incognita (unbekanntes Land) ist. Das gilt insbesondere für das Nachdenken Nietzsches über Europa, das mit jenem über die geschichtliche Bedeutung des Christentums eng zusammenhängend ist. Der Beitrag, den dieses Nachdenken zu der Debatte leisten konnte, war zwar nicht die „christliche Wurzeln“ Europas zu verneinen oder zu behaupten — das ist an und für sich eine geschichtliche Offensichtlichkeit und fast eine Trivialität —, sondern die Form und die Bedeutung zu verstehen, die jene Wurzeln in gegenwärtigem Europa angenommen haben.

Carlo Gentili (2014). Der 'gute Europäer' als neue Idee des Menschen nach der Säkularisierung des Christentums. NIETZSCHE-STUDIEN, 43(1), 106-117 [10.1515/nietzstu-2014-0112].

Der 'gute Europäer' als neue Idee des Menschen nach der Säkularisierung des Christentums

GENTILI, CARLO
2014

Abstract

Jeder erinnert sich an der [Es ist wohlbekannt die] Polemik die auf die Verabschiedung der neuen europäischen Verfassung und auf die ausstehende Erwähnung der „christlichen Wurzeln“ Europas folgte. Die neue Verfassungsurkunde tritt am 1. Dezember 2009 in Kraft und wurde von dem Nizza-Vertrag vorausgegangen, den der europäische Rat am 11. Dezember 2000, zusammen mit der „Charta der Grundrechten der europäischen Union“, angenommen hatte. Schon von diesen ersten Akten an erhob die katholische Welt, mit einer Reihe von maßgebenden Stellungnahmen, ihren Einwand gegen die ausstehend ausdrückliche Anerkennung der „christlichen Wurzeln“ Europas. In einem Dokument von den Mitgliedern der Kommission der Episcopalkonferenzen der Staaten der europäischen Union am 22. Mai 2002 unterschrieben, kann man lesen: «Die zukünftige Verfassung der europäischen Union muss einen Hinweis auf Gott und das Transzendente enthalten»; die Anerkennung selbst der Grundrechten der europäischen Bürgern muss «auf die Anerkennung der menschlichen Würde und ihrer Beziehungen auf die Grundlage der Familie als Grund der Gesellschaft» begründet werden. Es ist überraschend, dass in der darauffolgenden Debatte der Name Nietzsches beinahe abwesend geblieben ist. Um so überraschender, weil solche Debatte nicht nur auf eine journalistische Ebene sich abgespielt hat, sondern sie hat Intellektuellen ersten Rangs und überhaupt die gebildeten Schichten Europas verwickelt hat. Das ist ein offenbares Merkmal dafür, dass das Denken Nietzsches gewiss ein geteilter Umstand des gemeinen Wissens ist und seine bekanntesten Lehren (der Übermensch, die ewige Wiederkehr des Gleichen, der Wille zur Macht usw.) nunmehr fast zu Gemeinplätzen geworden sind, doch ein grosser Teil seiner Reflexion noch terra incognita (unbekanntes Land) ist. Das gilt insbesondere für das Nachdenken Nietzsches über Europa, das mit jenem über die geschichtliche Bedeutung des Christentums eng zusammenhängend ist. Der Beitrag, den dieses Nachdenken zu der Debatte leisten konnte, war zwar nicht die „christliche Wurzeln“ Europas zu verneinen oder zu behaupten — das ist an und für sich eine geschichtliche Offensichtlichkeit und fast eine Trivialität —, sondern die Form und die Bedeutung zu verstehen, die jene Wurzeln in gegenwärtigem Europa angenommen haben.
2014
Carlo Gentili (2014). Der 'gute Europäer' als neue Idee des Menschen nach der Säkularisierung des Christentums. NIETZSCHE-STUDIEN, 43(1), 106-117 [10.1515/nietzstu-2014-0112].
Carlo Gentili
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