Was verbindet den Zürcher Malerpoeten Salomon Gessner mit dem Königsberger Philosophen? Formeln wie „Gessner vs Goethe“ oder „Locke vs Kant“, „Mendelssohn vs Kant“ bzw. „Eberhard vs Kant“ würden jeweils den Spezialisten auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft und der Philosophie einleuchten. Die Formel „Gessner vs Kant“ bleibt dagegen den einen wie den anderen rätselhaft. Der vorliegende Beitrag, der auf etliche seit 1993 von mir unternommene Untersuchungen zum deutsch-italienischen Kulturtransfer aufbaut, entwickelt sich in – impliziter oder expliziter – Auseinandersetzung mit einem denkbar ungünstigen Stand der Forschung. Ausgangspunkt ist die Rolle der Universität Pavia, des bedeutendsten italienischen Zentrums für die frühen Debatten über Kant. Berücksichtig werden insbesondere Pietro Tamburini, Giuseppe Zola, Angelo Maria Ridolfi, der seine Sulzer-Übersetzungen Zola gewidmet hatte, ferner der Florentiner Cesare Baldinotti, der fast gleichzeitig mit Aurelio de Giorgi Bertola nach Pavia berufen wurde und vorher, in den Siebziger Jahren, zu dem Entourage des Grafen Karl Joseph von Firmian gehörte. Im Zentrum der Untersuchung stehen Bertola und Francesco Soave, beide Spitzenrepräsentanten der „Arcadia filosofica“, beide Sulzer-Verehrer und Gessner-Übersetzer in Personalunion. Der mit seiner Filosofia di Kant esposta ed esaminata 1803 als wirkungsvoller Kant-Gegner auftretende Soave, der sich als Schüler von Giuseppe Maria Pujati in dem ausgesprochen kosmopolitischen, freigesinnten Milieu um das Stabilimento De Propaganda Fide ausgebildet hatte, aber von späteren Forschern geradezu abschätzige Urteile erfährt, wird hier als Kulturvermittler europäischen Formats im Zusammenhang der europäischen Aufklärungsbewegung gewürdigt. In dem dichten Netz von Beziehungen und Querverbindungen, die im Laufe der Untersuchung wieder ans Licht gebracht werden, sind die zwischen Rom, Parma als „Italiens Athen“ und Berlin, zwischen Siena und Berlin (§ XIV. Der geheime Bertola) sowie zwischen Neapel und Bern besonders wichtig. Eine eigene Behandlung erfahren u.a. Carlo Denina (§ VI. Hinter Deninas Kant-Portrait), Melchiorre Cesarotti (§ VII. Mendelssohn/Gessner vs Kant bei Cesarotti), Fortunato Bartolomeo De Felice (§ VIII. Enzyklopädismus und Gessner-Verehrung; De Felice, Sulzer und Gessner in der Mailänder „Gazzetta letteraria“), Gian Cristofano Amaduzzi (§ IX. Gessner als Vertreter der „philosophischen Dichtung“) und der damals in Florenz weilende Christian Joseph Jagemann (Vermittler Sulzers, Schöpfer des Terminus „estetica“ ins Italienische und Anreger der frühesten, ungedruckt gebliebenen Übersetzungen Gessners in Italien). Als Pendant zur gut erforschten (E. Décultot, W. Röben de Alencar Xavier) französischen Rezeption Sulzers wird hier das vielleicht interessanteste Forschungsfeld unter dem Gesichtspunkt eines interdisziplinären Kulturtransferkonzepts freigelegt: Zum ersten Mal wird die Rezeption der deutschen Popularphilosophie, welche die Literatur (im heutigen Sinn), die Philosophie, die darstellende Kunst, aber auch ethisch-politische Bestrebungen einschließt, als der gemeinsame Nenner der Begeisterung für Gessner und der Abwehr Kants bzw. Goethes erkannt.
G. Cantarutti (2012). Gessner vs Kant im Italien des Neoclassicismo: Streifzuege durch eine versunkene Landschaft. HEIDELBERG : Universitaetsverlag Winter.
Gessner vs Kant im Italien des Neoclassicismo: Streifzuege durch eine versunkene Landschaft
CANTARUTTI, GIULIA
2012
Abstract
Was verbindet den Zürcher Malerpoeten Salomon Gessner mit dem Königsberger Philosophen? Formeln wie „Gessner vs Goethe“ oder „Locke vs Kant“, „Mendelssohn vs Kant“ bzw. „Eberhard vs Kant“ würden jeweils den Spezialisten auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft und der Philosophie einleuchten. Die Formel „Gessner vs Kant“ bleibt dagegen den einen wie den anderen rätselhaft. Der vorliegende Beitrag, der auf etliche seit 1993 von mir unternommene Untersuchungen zum deutsch-italienischen Kulturtransfer aufbaut, entwickelt sich in – impliziter oder expliziter – Auseinandersetzung mit einem denkbar ungünstigen Stand der Forschung. Ausgangspunkt ist die Rolle der Universität Pavia, des bedeutendsten italienischen Zentrums für die frühen Debatten über Kant. Berücksichtig werden insbesondere Pietro Tamburini, Giuseppe Zola, Angelo Maria Ridolfi, der seine Sulzer-Übersetzungen Zola gewidmet hatte, ferner der Florentiner Cesare Baldinotti, der fast gleichzeitig mit Aurelio de Giorgi Bertola nach Pavia berufen wurde und vorher, in den Siebziger Jahren, zu dem Entourage des Grafen Karl Joseph von Firmian gehörte. Im Zentrum der Untersuchung stehen Bertola und Francesco Soave, beide Spitzenrepräsentanten der „Arcadia filosofica“, beide Sulzer-Verehrer und Gessner-Übersetzer in Personalunion. Der mit seiner Filosofia di Kant esposta ed esaminata 1803 als wirkungsvoller Kant-Gegner auftretende Soave, der sich als Schüler von Giuseppe Maria Pujati in dem ausgesprochen kosmopolitischen, freigesinnten Milieu um das Stabilimento De Propaganda Fide ausgebildet hatte, aber von späteren Forschern geradezu abschätzige Urteile erfährt, wird hier als Kulturvermittler europäischen Formats im Zusammenhang der europäischen Aufklärungsbewegung gewürdigt. In dem dichten Netz von Beziehungen und Querverbindungen, die im Laufe der Untersuchung wieder ans Licht gebracht werden, sind die zwischen Rom, Parma als „Italiens Athen“ und Berlin, zwischen Siena und Berlin (§ XIV. Der geheime Bertola) sowie zwischen Neapel und Bern besonders wichtig. Eine eigene Behandlung erfahren u.a. Carlo Denina (§ VI. Hinter Deninas Kant-Portrait), Melchiorre Cesarotti (§ VII. Mendelssohn/Gessner vs Kant bei Cesarotti), Fortunato Bartolomeo De Felice (§ VIII. Enzyklopädismus und Gessner-Verehrung; De Felice, Sulzer und Gessner in der Mailänder „Gazzetta letteraria“), Gian Cristofano Amaduzzi (§ IX. Gessner als Vertreter der „philosophischen Dichtung“) und der damals in Florenz weilende Christian Joseph Jagemann (Vermittler Sulzers, Schöpfer des Terminus „estetica“ ins Italienische und Anreger der frühesten, ungedruckt gebliebenen Übersetzungen Gessners in Italien). Als Pendant zur gut erforschten (E. Décultot, W. Röben de Alencar Xavier) französischen Rezeption Sulzers wird hier das vielleicht interessanteste Forschungsfeld unter dem Gesichtspunkt eines interdisziplinären Kulturtransferkonzepts freigelegt: Zum ersten Mal wird die Rezeption der deutschen Popularphilosophie, welche die Literatur (im heutigen Sinn), die Philosophie, die darstellende Kunst, aber auch ethisch-politische Bestrebungen einschließt, als der gemeinsame Nenner der Begeisterung für Gessner und der Abwehr Kants bzw. Goethes erkannt.I documenti in IRIS sono protetti da copyright e tutti i diritti sono riservati, salvo diversa indicazione.


