Kaum ein Wort in den letzten hundert Jahren hatmehr Berîhmtheit erlaengt als Nietzsches Wort vom ,Tode Gottes‘. Nietzsche hat damit eine ebenso problematische wie hochaktuelle Diagnose ausgesprochen. Waehrend sie im Zusammenhang der daraus entspringenden moralisch-praktischen Fragen ausfîhrlich diskutiert wurde, ist sie in Bezug auf den Status und das Selbstverst aendnis der theoretischen Wissenschaften im Wesentlichen unthematisiert geblieben, was unter anderem darauf zurîckzufîhren ist, dass sich die moderne Wissenschaft ihre meigenen Selbstverstaendnis nach ausdrîcklich in einem wertneutralen Raum zu bewegen hat. Gegenwaertig wird jedoch zunehmend deutlich, dass jene im Kantischen Kritizismus angelegte Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft eine Krise hervorruft, die sich auf den Sinn des Lebens im Ganzen bezieht. Die methodischen Restriktionen ontologischer, theologischer und axiologischer Art, die die Wirksamkeit des wissenschaftlichen Zugriffs gewaehrleisten, bleiben nicht folgenlos fîr den Bereich der Praxis, sondern scheinen ihn vielmehr auszuhçhlen, was sich vor allem in der konsequenten Ausbreitung eines naturalistischen Welt- und Selbstverstaendnisses des Menschen geltendmacht. Es ist diese in seinem Wort vom , Tode Gottes‘ ausgesprochene Einsicht in die Tragweite der Konsequenzen einer in Bezug auf Ontologie, Theologie und Moral Neutralitaet praetendierenden Wissenschaft, die Nietzsche fîr die gegenw aertigen Fragen aktuell sein laesst. Aus seiner Einsicht in den InterpretationscharakterallerWeltzug aengeund-auffassungenergibt sichdarîber hinaus die Notwendigkeit einer Reflexion îber das Verhaeltnis von Ontologie und Methode, die wiederum die nach dem Verhaeltnis von wissenschaftlichem Erkenntnisanspruch und weltanschaulicher Gesamtdeutung nach sich zieht. An dieser Stelle setzen die vorliegenden Aufsaetze ein, indem sie den spezifischen Wissenstyp neuzeitlicherWissenschaft und seine ontologische, theologische und axiologische Leerstelle ausdrîcklich aufeinander beziehen. Dabei verfolgen sie ein doppeltes Ziel. Zum einen ist die Frage leitend, inwiefern sich in der wissenschaftlichen Weltauffassung, wie in jeder anderen Weltauffassung auch, eine indirekte Gestalt von Theologie undMetaphysik als einer Auffassung vom Absoluten auswirkt, wie auch umgekehrt jede Theologie einebestimmteWelt-,Selbst-undNaturauffassungnachsichzieht. Liegt nicht auch im Objektivitaetsverzicht derWissenschaften ebenso wie in ihrer praetendierten Wertindifferenz ein impliziter Anspruch auf Totalitaet? Wenn sich aber gerade in der Zurîckweisung vonmetaphysischer Verortung die implizite Theologie und Metaphysikgebundenheit derWissenschaft bekunden, was bedeutet es dann, dass diemoderneWissenschaftmit dem,Tode Gottes‘ zusammenfaellt?Wie ist dieser ,Tod‘ genauer zu verstehen und welche Dimensionen berîhrt er? Faellt er mit der ontologischen, theologischen und axiologischen Wertneutralitaet der Wissenschaft zusammen, ja bedeutet er deren konsequenteste, volle Behauptung? Oder hebt dieser Tod die existenziellen Gefahren hervor, die ein solcher wissenschaftlicher Reduktionismus fîr eine ganzheitliche Sicht desMenschen mit sich bringt?Was kann auf der anderen Seite an die Stelle des ,gestorbenen‘Gottes treten?Oder ist – ganz im Gegenteil–NietzschesGrunderfahrungdes ,TodesGottes‘ inihrerRadikalitaet durchdieGeschichte,auchdieWissenschaftsgeschichte,wennnichtîberholt, so doch zu modifizieren? ImGegensatz zu der hitzigenDringlichkeit, mit der dieDebatte um den „Nihilismus“gefîhrtwurde,bevor sie indiemedialeGleichgîltigkeitversank, bemerktNietzsche einmal lakonisch, es dauere durchaus lange, bis eineWelt untergehe. IndiesenlangenAtemwollensichdieBeitraegeeinschreiben,indem siemitmçglichst großerGenauigkeit das zu verstehen und zu deuten suchen, was nicht den einfachen Bruch eines Paradigmas darstellt, sondern dessen untergrîndigeWeiterschreibungen, Projektionen, Schatten und˜bergaenge: EinZ...

Der Tod Gottes und die Wissenschaft. Zur Wissenschaftskritik Nietzsches

GENTILI, CARLO;
2010

Abstract

Kaum ein Wort in den letzten hundert Jahren hatmehr Berîhmtheit erlaengt als Nietzsches Wort vom ,Tode Gottes‘. Nietzsche hat damit eine ebenso problematische wie hochaktuelle Diagnose ausgesprochen. Waehrend sie im Zusammenhang der daraus entspringenden moralisch-praktischen Fragen ausfîhrlich diskutiert wurde, ist sie in Bezug auf den Status und das Selbstverst aendnis der theoretischen Wissenschaften im Wesentlichen unthematisiert geblieben, was unter anderem darauf zurîckzufîhren ist, dass sich die moderne Wissenschaft ihre meigenen Selbstverstaendnis nach ausdrîcklich in einem wertneutralen Raum zu bewegen hat. Gegenwaertig wird jedoch zunehmend deutlich, dass jene im Kantischen Kritizismus angelegte Trennung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft eine Krise hervorruft, die sich auf den Sinn des Lebens im Ganzen bezieht. Die methodischen Restriktionen ontologischer, theologischer und axiologischer Art, die die Wirksamkeit des wissenschaftlichen Zugriffs gewaehrleisten, bleiben nicht folgenlos fîr den Bereich der Praxis, sondern scheinen ihn vielmehr auszuhçhlen, was sich vor allem in der konsequenten Ausbreitung eines naturalistischen Welt- und Selbstverstaendnisses des Menschen geltendmacht. Es ist diese in seinem Wort vom , Tode Gottes‘ ausgesprochene Einsicht in die Tragweite der Konsequenzen einer in Bezug auf Ontologie, Theologie und Moral Neutralitaet praetendierenden Wissenschaft, die Nietzsche fîr die gegenw aertigen Fragen aktuell sein laesst. Aus seiner Einsicht in den InterpretationscharakterallerWeltzug aengeund-auffassungenergibt sichdarîber hinaus die Notwendigkeit einer Reflexion îber das Verhaeltnis von Ontologie und Methode, die wiederum die nach dem Verhaeltnis von wissenschaftlichem Erkenntnisanspruch und weltanschaulicher Gesamtdeutung nach sich zieht. An dieser Stelle setzen die vorliegenden Aufsaetze ein, indem sie den spezifischen Wissenstyp neuzeitlicherWissenschaft und seine ontologische, theologische und axiologische Leerstelle ausdrîcklich aufeinander beziehen. Dabei verfolgen sie ein doppeltes Ziel. Zum einen ist die Frage leitend, inwiefern sich in der wissenschaftlichen Weltauffassung, wie in jeder anderen Weltauffassung auch, eine indirekte Gestalt von Theologie undMetaphysik als einer Auffassung vom Absoluten auswirkt, wie auch umgekehrt jede Theologie einebestimmteWelt-,Selbst-undNaturauffassungnachsichzieht. Liegt nicht auch im Objektivitaetsverzicht derWissenschaften ebenso wie in ihrer praetendierten Wertindifferenz ein impliziter Anspruch auf Totalitaet? Wenn sich aber gerade in der Zurîckweisung vonmetaphysischer Verortung die implizite Theologie und Metaphysikgebundenheit derWissenschaft bekunden, was bedeutet es dann, dass diemoderneWissenschaftmit dem,Tode Gottes‘ zusammenfaellt?Wie ist dieser ,Tod‘ genauer zu verstehen und welche Dimensionen berîhrt er? Faellt er mit der ontologischen, theologischen und axiologischen Wertneutralitaet der Wissenschaft zusammen, ja bedeutet er deren konsequenteste, volle Behauptung? Oder hebt dieser Tod die existenziellen Gefahren hervor, die ein solcher wissenschaftlicher Reduktionismus fîr eine ganzheitliche Sicht desMenschen mit sich bringt?Was kann auf der anderen Seite an die Stelle des ,gestorbenen‘Gottes treten?Oder ist – ganz im Gegenteil–NietzschesGrunderfahrungdes ,TodesGottes‘ inihrerRadikalitaet durchdieGeschichte,auchdieWissenschaftsgeschichte,wennnichtîberholt, so doch zu modifizieren? ImGegensatz zu der hitzigenDringlichkeit, mit der dieDebatte um den „Nihilismus“gefîhrtwurde,bevor sie indiemedialeGleichgîltigkeitversank, bemerktNietzsche einmal lakonisch, es dauere durchaus lange, bis eineWelt untergehe. IndiesenlangenAtemwollensichdieBeitraegeeinschreiben,indem siemitmçglichst großerGenauigkeit das zu verstehen und zu deuten suchen, was nicht den einfachen Bruch eines Paradigmas darstellt, sondern dessen untergrîndigeWeiterschreibungen, Projektionen, Schatten und˜bergaenge: EinZ...
2010
328
9783110220742
9783110220759
C. Gentili; C. Nielsen
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