FRIEDRICH NIETZSCHE: TOD DER KUNST UND TOD GOTTES (Abstract) Die Themen „Tod der Kunst“ und „Tod Gottes“ scheinen beim ersten Hinsehen in Nietzsches Philosophie zwangsläufig miteinander verknüpft zu sein, bezieht sich doch der angekündigte Tod in beiden Fällen auf ein Absolutes. Wenn außerdem einer weit verbreiteten Interpretation zufolge der Kern dieser Philosophie gerade in der Negation alles Absoluten besteht, so ist nicht verwunderlich, dass Gott und die Kunst das gleiche tödliche Schicksal erleiden. Es zeigt sich jedoch, dass die Kunst auch nach der Verkündigung ihres Todes ein Absolutes verkörpert. Es gilt also der Frage nachzugehen, ob und inwiefern dies mit dem Tod Gottes zusammenhängt. Als erstes ist anzumerken, dass schon bei ihrem ersten Auftreten zwischen den beiden Themen eine Verbindung zu existieren scheint. In der Geburt der Tragödie ist, wenn auch nicht vom Tod der Kunst so doch vom Tod einer Kunst die Rede; und Nietzsche spricht hier zwar nicht vom Tod Gottes, aber doch vom Tod eines Gottes. So heißt es am Anfang von Kap. 11: «Wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem einsamen Eiland den erschütternden Schrei hörten „der grosse Pan ist todt“: so klang es jetzt wie ein schmerzlicher Klageton durch die hellenische Welt: „die Tragödie ist todt“» (GT, KSA, 1, 75). Dieser Passus stammt aus Plutarchs De defectu oraculorum (XVII, C). Karl Schlechta (Nietzsches großer Mittag, 1954) vermutete, dass Nietzsche die Stelle nicht direkt dem antiken Text entnommen hat, sondern dass er nach einem der französischen Moralisten — Charron oder Pascal — zitierte, die er während seiner kurzen Teilnahme am deutsch-französischen Krieg von 1870/71 zum ersten Mal gelesen hatte. Vor Schlechta war aber schon Martin Heidegger (Nietzsches Wort „Gott ist tot“, 1943, in Holzwege, 19806) zu der Überzeugung gekommen, dass Pascal Nietzsches Quelle war, wenn er Pascals Satz — «Le grand Pan est mort» (Pensées, 695 Brunschvig) — gleich nach einer Stelle aus Glauben und Wissen (1802) zitiert, an der Hegel von dem «Gefühl» spricht, «worauf die Religion der neuen Zeit beruht», dem Gefühl nämlich «Gott selbst ist tot» (Werke, 2, 432), und zur Stützung seiner These ebenfalls eine Pensée von Pascal verwendet: «La nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu dans l’homme et hors de l’homme» (Pensées, 441 Brunschvig). Unmittelbar danach zitiert Heidegger den vollständigen Text des Aph. 125 (Der tolle Mensch) aus der Fröhlichen Wissenschaft und stellt so eine Sinnkontinuität zwischen der Stelle aus der Geburt der Tragödie und dem Thema vom Tod Gottes her. Um diese Kontinuität zu belegen, hatte Heidegger einige Zeilen vorher ein Fragment aus der Entstehungszeit der Geburt der Tragödie herangezogen: «Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Götter müßen sterben» (Heidegger zitiert hier ziemlich ungenau, in Wirklichkeit lautet die Stelle: «„Alle Götter müssen sterben“ die urdeutsche Vorstellung, die die Wissenschaft mit höchster Kraft bis jetzt durchführt», 5[57], NF, KSA, 7, 107). Es sei daran erinnert, dass der Satz, den Nietzsche Plutarch (oder Pascal) entnommen hat, auch in zwei weiteren Fragmenten (5[116] und 7[8], NF, KSA, 7, 125 und 138) aus derselben Zeit auftaucht. Barbara von Reibnitz (Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, 1992) hat jedoch auf die wahre Bedeutung von Plutarchs Anekdote hingewiesen, die in einem ganz anderen Kontext erzählt wird, nämlich im Rahmen eines «Gespräch[s] über die Sterblichkeit von Dämonen, im Unterschied zur Unsterblichkeit der Götter». Da die Anekdote in einer Zeit (dem Zeitalter des Kaisers Tiberius) angesiedelt ist, die mit dem irdischen Leben Christi zusammenfällt, verstehen die christlichen Apologeten (insbesondere Eusebius von Caesarea in der Praeparatio evangelica) den Tod Pans «als Allegorie des Untergangs der antiken Götterwelt, verursacht durch den Sieg des Christentums». Nietzsche greift auf diese Anekdote zurück, um eine Parallele herzustellen zwischen dem Untergang der Tragödie und dem «Tod des Pan als der symbolischen Zäsur zwischen nichtchristlicher und christlicher Antike». Der Tod Pans, eines Dämons, der seit der hellenistischen Kultur mit Dionysos verknüpft war, «läßt den Tod des Dionysos assoziieren und weiter den Tod der Tragödie, der auf einer weiteren Stufe das Ende der griechischen Kultur bedeutet». Somit bestätigt sich, dass der Tod einer Kunstform — noch dazu derjenigen, die für Nietzsche die höchste Kunstform überhaupt war — im Tod eines Gottes (Dionysos) seinen symbolischen Ausdruck findet. Man darf also annehmen, dass obige Assoziation auf der Grundlage eines der Kunst und der Göttlichkeit gemeinsamen Wesenszugs möglich ist und dass dieser gemeinsame Wesenszug in ihrer Sterblichkeit besteht. Lesen wir in diesem Zusammenhang die Frage, die «der tolle Mensch» (in den Schlusszeilen des Aph. 125 der Fröhlichen Wissenschaft) an jene richtet, die ihn aus den Kirchen verjagt haben, in denen er sein Requiem aeternam deo anstimmte: «„Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“» (FW, KSA, 3, 482). Die Tempel der Christenheit — auch sie eine Kunstform — sind zu Denkmälern geworden, in denen die Erinnerung an einen toten Gott wach gehalten wird. Erst wenn auch diese Denkmäler eingestürzt sind, wird die Zeit der Trauer, die mit dem Tod Gottes beginnt, zu Ende sein und die Trauerarbeit ihre Funktion erfüllt haben. Dann erst wird Zarathustra ausrufen können: Wenn ich je frohlockend sass, wo alte Götter begraben liegen, weltsegnend, weltliebend neben den Denkmalen alter Welt-Verleumder: — / — denn selbst Kirchen und Gottes-Gräber liebe ich, wenn der Himmel erst reinen Auges durch ihre zerbrochenen Decken blickt; gerne sitze ich gleich Gras und rothem Mohne auf zerbrochnen Kirchen. (Za, KSA, 4, 288) Wenn sich also der Tod Gottes in der Sterblichkeit der Kunst vollzieht, musste sich Nietzsche dieser Sterblichkeit bewusst geworden sein, bevor er den Tod Gottes gedanklich formulierte. Während in der Geburt der Tragödie der Tod der antiken Tragödie nur die Voraussetzung dafür ist, dass diese dank einer auf der «heraklesmässige[n] Kraft der Musik» (GT, KSA, 1, 73) — d. h. der Musik Wagners — beruhenden «Mysterienlehre der Tragödie» wiederaufersteht, wird nach seiner Abkehr von Wagner der Tod der Kunst für Nietzsche zu dem Ereignis, das der Kunst erst den Charakter des Absoluten verleiht. Dieses Absolute der Kunst ist aber nichts anderes als ihre Fähigkeit zu offenbaren, dass ihr der Tod wesenseigen ist. So schreibt Nietzsche im Aph. 223 (Abendröthe der Kunst) in Menschliches, Allzumenschliches: «Vielleicht dass niemals früher die Kunst so tief und seelenvoll erfasst wurde, wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen scheint». Dass sich der Tod als ureigenster Wesenszug der Kunst herausstellt, hängt damit zusammen, dass sie eine grundlegende Wandlung erfahren hat: Sie ist nicht mehr die Kunst der Zukunft, also die Musik Wagners, wie in der Geburt der Tragödie, sondern etwas, das von der Vergangenheit spricht: «Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können». Gerade im letzten Akt, im Akt des Todes, erstrahlt diese Vergangenheit in vollem Glanz: «Die Sonne ist schon untergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen» (MAM, KSA, 2 186). Dass Nietzsche hier das Wort Abendröte statt des üblichen Untergangs verwendet, weist unübersehbar darauf hin, dass das Wesen im Augenblick des Todes aufscheint, vergleichbar der Sonne, die am Abend beim Untergehen rot schimmert. Es ist bezeichnend, dass Nietzsche in einem weiteren Aphorismus, dem Aph. 474 (Die Entwicklung des Geistes, vom Staate gefürchtet), denselben Ausdruck verwendet, um den Untergang der athenischen Kultur zu beschreiben, die ebenfalls im Augenblick ihres Untergehens erstrahlt und auch diesmal dank der Kunst, hier verkörpert durch die Prosa des Thukydides: «Thukydides lässt sie, unmittelbar bevor die Nacht über Athen kommt […] noch einmal wie eine verklärende Abendröthe aufleuchten» (MAM, KSA, 2, 308-309). Auf dieser Wesensverbundenheit der Kunst mit dem Tod und der Vergangenheit basieren die Aphorismen des IV. Teils (Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller) von Menschliches, Allzumenschliches. Das Leben der Kunst ist «nur ein Scheinleben wie über den Gräbern», «ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren Geister wiederkehren». Dank ihrer wird «wenigstens auf Augenblick [...] die alte Empfindung noch einmal rege und das Herz klopft nach einem sonst vergessenen Tacte» (Aph. 147: Die Kunst als Todtbeschwörerin, MAM, KSA, 2, 142). Die Dichter «verhelfen der Gegenwart durch ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen, zu neuen Farben»; und um dies zu können, «müssen sie selbst in manchen Hinsichten rückwärts gewendete Wesen sein» (Aph. 148: Dichter als Erleichterer des Lebens, MAM, KSA, 2, 143). Was die Künstler als rückwärts gewendete Wesen sehen, ist der religiöse Ursprung der Kunst. Sie lässt, wenn auch in Form ihrer Sterblichkeit (wie eine verklärende Abendröte, wobei das Partizip verklärend im Sinne der Verklärung Christi zu verstehen ist), ihre Herkunft hinter sich und nimmt die Form einer säkularisierten Religion an: «Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen». Desgleichen: «Die wachsende Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen eingeflösst: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst» (Aph. 150: Beseelung der Kunst, MAM, KSA, 2, 144). Die säkularisierende Funktion der Kunst zeigt sich gerade in der «Verklärung» jener Vorstellungen «welche wir jetzt als falsch erkennen». Dennoch wären die Künstler aller Zeiten nicht zu dieser Verklärung fähig gewesen «ohne den Glauben an die absolute Wahrheit» jener falschen Vorstellungen. Die großen Kunstwerke der Menschheit «wie die divina commedia, die Bilder Rafael’s, die Fresken Michelangelo’s, die gothischen Münster» setzen «nicht nur eine kosmische, sondern auch eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte» voraus (Aph. 220: Das Jenseits in der Kunst, MAM, KSA, 2, 180). Bleibt diese große Kunst auch für Nietzsche der absolute Maßstab, so ist sie doch dazu verurteilt, in den Gewändern und unter der Maske einer kleinen Kunst ein unbedeutendes Dasein zu fristen, sobald die Aufklärung sich in einem Zeitalter der Arbeit verwirklicht hat. Im Aph. 170 (Die Kunst in der Zeit der Arbeit) aus Der Wanderer und sein Schatten stellt Nietzsche fest, dass die Kunst in unserem «arbeitsamen Zeitalter» «Sache der Musse, der Erholung» geworden ist. «Die große Kunst versucht, in einer Art Vergröberung und Verkleidung, in jener anderen Luft heimisch zu werden […], die eigentlich nur für die kleine Kunst, für die Kunst der Erholung, der ergötzlichen Zerstreuung das natürliche Element ist». Wenn sie zu einem solchen Dasein bereit ist, werden wir immerhin die Möglichkeit haben, einmal wieder «volle Fest- und Freudentage in das Leben ein[zuführen]». Dann aber wird «unsere große Kunst unbrauchbar sein [...]» (WS, KSA, 2, 623-624). Die Festtage, von denen hier die Rede ist, sind nichts anderes als jene «Gedächtnisfeste», bei denen laut Aph. 223 aus MAM die «rührende Erinnerung» an eine in das Stadium ihrer Abendröte eingetretene Kunst zelebriert wird.

Friedrich Nietzsche: Tod der Kunst und Tod Gottes

GENTILI, CARLO
2015

Abstract

FRIEDRICH NIETZSCHE: TOD DER KUNST UND TOD GOTTES (Abstract) Die Themen „Tod der Kunst“ und „Tod Gottes“ scheinen beim ersten Hinsehen in Nietzsches Philosophie zwangsläufig miteinander verknüpft zu sein, bezieht sich doch der angekündigte Tod in beiden Fällen auf ein Absolutes. Wenn außerdem einer weit verbreiteten Interpretation zufolge der Kern dieser Philosophie gerade in der Negation alles Absoluten besteht, so ist nicht verwunderlich, dass Gott und die Kunst das gleiche tödliche Schicksal erleiden. Es zeigt sich jedoch, dass die Kunst auch nach der Verkündigung ihres Todes ein Absolutes verkörpert. Es gilt also der Frage nachzugehen, ob und inwiefern dies mit dem Tod Gottes zusammenhängt. Als erstes ist anzumerken, dass schon bei ihrem ersten Auftreten zwischen den beiden Themen eine Verbindung zu existieren scheint. In der Geburt der Tragödie ist, wenn auch nicht vom Tod der Kunst so doch vom Tod einer Kunst die Rede; und Nietzsche spricht hier zwar nicht vom Tod Gottes, aber doch vom Tod eines Gottes. So heißt es am Anfang von Kap. 11: «Wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem einsamen Eiland den erschütternden Schrei hörten „der grosse Pan ist todt“: so klang es jetzt wie ein schmerzlicher Klageton durch die hellenische Welt: „die Tragödie ist todt“» (GT, KSA, 1, 75). Dieser Passus stammt aus Plutarchs De defectu oraculorum (XVII, C). Karl Schlechta (Nietzsches großer Mittag, 1954) vermutete, dass Nietzsche die Stelle nicht direkt dem antiken Text entnommen hat, sondern dass er nach einem der französischen Moralisten — Charron oder Pascal — zitierte, die er während seiner kurzen Teilnahme am deutsch-französischen Krieg von 1870/71 zum ersten Mal gelesen hatte. Vor Schlechta war aber schon Martin Heidegger (Nietzsches Wort „Gott ist tot“, 1943, in Holzwege, 19806) zu der Überzeugung gekommen, dass Pascal Nietzsches Quelle war, wenn er Pascals Satz — «Le grand Pan est mort» (Pensées, 695 Brunschvig) — gleich nach einer Stelle aus Glauben und Wissen (1802) zitiert, an der Hegel von dem «Gefühl» spricht, «worauf die Religion der neuen Zeit beruht», dem Gefühl nämlich «Gott selbst ist tot» (Werke, 2, 432), und zur Stützung seiner These ebenfalls eine Pensée von Pascal verwendet: «La nature est telle qu’elle marque partout un Dieu perdu dans l’homme et hors de l’homme» (Pensées, 441 Brunschvig). Unmittelbar danach zitiert Heidegger den vollständigen Text des Aph. 125 (Der tolle Mensch) aus der Fröhlichen Wissenschaft und stellt so eine Sinnkontinuität zwischen der Stelle aus der Geburt der Tragödie und dem Thema vom Tod Gottes her. Um diese Kontinuität zu belegen, hatte Heidegger einige Zeilen vorher ein Fragment aus der Entstehungszeit der Geburt der Tragödie herangezogen: «Ich glaube an das urgermanische Wort: alle Götter müßen sterben» (Heidegger zitiert hier ziemlich ungenau, in Wirklichkeit lautet die Stelle: «„Alle Götter müssen sterben“ die urdeutsche Vorstellung, die die Wissenschaft mit höchster Kraft bis jetzt durchführt», 5[57], NF, KSA, 7, 107). Es sei daran erinnert, dass der Satz, den Nietzsche Plutarch (oder Pascal) entnommen hat, auch in zwei weiteren Fragmenten (5[116] und 7[8], NF, KSA, 7, 125 und 138) aus derselben Zeit auftaucht. Barbara von Reibnitz (Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“, 1992) hat jedoch auf die wahre Bedeutung von Plutarchs Anekdote hingewiesen, die in einem ganz anderen Kontext erzählt wird, nämlich im Rahmen eines «Gespräch[s] über die Sterblichkeit von Dämonen, im Unterschied zur Unsterblichkeit der Götter». Da die Anekdote in einer Zeit (dem Zeitalter des Kaisers Tiberius) angesiedelt ist, die mit dem irdischen Leben Christi zusammenfällt, verstehen die christlichen Apologeten (insbesondere Eusebius von Caesarea in der Praeparatio evangelica) den Tod Pans «als Allegorie des Untergangs der antiken Götterwelt, verursacht durch den Sieg des Christentums». Nietzsche greift auf diese Anekdote zurück, um eine Parallele herzustellen zwischen dem Untergang der Tragödie und dem «Tod des Pan als der symbolischen Zäsur zwischen nichtchristlicher und christlicher Antike». Der Tod Pans, eines Dämons, der seit der hellenistischen Kultur mit Dionysos verknüpft war, «läßt den Tod des Dionysos assoziieren und weiter den Tod der Tragödie, der auf einer weiteren Stufe das Ende der griechischen Kultur bedeutet». Somit bestätigt sich, dass der Tod einer Kunstform — noch dazu derjenigen, die für Nietzsche die höchste Kunstform überhaupt war — im Tod eines Gottes (Dionysos) seinen symbolischen Ausdruck findet. Man darf also annehmen, dass obige Assoziation auf der Grundlage eines der Kunst und der Göttlichkeit gemeinsamen Wesenszugs möglich ist und dass dieser gemeinsame Wesenszug in ihrer Sterblichkeit besteht. Lesen wir in diesem Zusammenhang die Frage, die «der tolle Mensch» (in den Schlusszeilen des Aph. 125 der Fröhlichen Wissenschaft) an jene richtet, die ihn aus den Kirchen verjagt haben, in denen er sein Requiem aeternam deo anstimmte: «„Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?“» (FW, KSA, 3, 482). Die Tempel der Christenheit — auch sie eine Kunstform — sind zu Denkmälern geworden, in denen die Erinnerung an einen toten Gott wach gehalten wird. Erst wenn auch diese Denkmäler eingestürzt sind, wird die Zeit der Trauer, die mit dem Tod Gottes beginnt, zu Ende sein und die Trauerarbeit ihre Funktion erfüllt haben. Dann erst wird Zarathustra ausrufen können: Wenn ich je frohlockend sass, wo alte Götter begraben liegen, weltsegnend, weltliebend neben den Denkmalen alter Welt-Verleumder: — / — denn selbst Kirchen und Gottes-Gräber liebe ich, wenn der Himmel erst reinen Auges durch ihre zerbrochenen Decken blickt; gerne sitze ich gleich Gras und rothem Mohne auf zerbrochnen Kirchen. (Za, KSA, 4, 288) Wenn sich also der Tod Gottes in der Sterblichkeit der Kunst vollzieht, musste sich Nietzsche dieser Sterblichkeit bewusst geworden sein, bevor er den Tod Gottes gedanklich formulierte. Während in der Geburt der Tragödie der Tod der antiken Tragödie nur die Voraussetzung dafür ist, dass diese dank einer auf der «heraklesmässige[n] Kraft der Musik» (GT, KSA, 1, 73) — d. h. der Musik Wagners — beruhenden «Mysterienlehre der Tragödie» wiederaufersteht, wird nach seiner Abkehr von Wagner der Tod der Kunst für Nietzsche zu dem Ereignis, das der Kunst erst den Charakter des Absoluten verleiht. Dieses Absolute der Kunst ist aber nichts anderes als ihre Fähigkeit zu offenbaren, dass ihr der Tod wesenseigen ist. So schreibt Nietzsche im Aph. 223 (Abendröthe der Kunst) in Menschliches, Allzumenschliches: «Vielleicht dass niemals früher die Kunst so tief und seelenvoll erfasst wurde, wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen scheint». Dass sich der Tod als ureigenster Wesenszug der Kunst herausstellt, hängt damit zusammen, dass sie eine grundlegende Wandlung erfahren hat: Sie ist nicht mehr die Kunst der Zukunft, also die Musik Wagners, wie in der Geburt der Tragödie, sondern etwas, das von der Vergangenheit spricht: «Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können». Gerade im letzten Akt, im Akt des Todes, erstrahlt diese Vergangenheit in vollem Glanz: «Die Sonne ist schon untergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen» (MAM, KSA, 2 186). Dass Nietzsche hier das Wort Abendröte statt des üblichen Untergangs verwendet, weist unübersehbar darauf hin, dass das Wesen im Augenblick des Todes aufscheint, vergleichbar der Sonne, die am Abend beim Untergehen rot schimmert. Es ist bezeichnend, dass Nietzsche in einem weiteren Aphorismus, dem Aph. 474 (Die Entwicklung des Geistes, vom Staate gefürchtet), denselben Ausdruck verwendet, um den Untergang der athenischen Kultur zu beschreiben, die ebenfalls im Augenblick ihres Untergehens erstrahlt und auch diesmal dank der Kunst, hier verkörpert durch die Prosa des Thukydides: «Thukydides lässt sie, unmittelbar bevor die Nacht über Athen kommt […] noch einmal wie eine verklärende Abendröthe aufleuchten» (MAM, KSA, 2, 308-309). Auf dieser Wesensverbundenheit der Kunst mit dem Tod und der Vergangenheit basieren die Aphorismen des IV. Teils (Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller) von Menschliches, Allzumenschliches. Das Leben der Kunst ist «nur ein Scheinleben wie über den Gräbern», «ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren Geister wiederkehren». Dank ihrer wird «wenigstens auf Augenblick [...] die alte Empfindung noch einmal rege und das Herz klopft nach einem sonst vergessenen Tacte» (Aph. 147: Die Kunst als Todtbeschwörerin, MAM, KSA, 2, 142). Die Dichter «verhelfen der Gegenwart durch ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen, zu neuen Farben»; und um dies zu können, «müssen sie selbst in manchen Hinsichten rückwärts gewendete Wesen sein» (Aph. 148: Dichter als Erleichterer des Lebens, MAM, KSA, 2, 143). Was die Künstler als rückwärts gewendete Wesen sehen, ist der religiöse Ursprung der Kunst. Sie lässt, wenn auch in Form ihrer Sterblichkeit (wie eine verklärende Abendröte, wobei das Partizip verklärend im Sinne der Verklärung Christi zu verstehen ist), ihre Herkunft hinter sich und nimmt die Form einer säkularisierten Religion an: «Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen». Desgleichen: «Die wachsende Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen eingeflösst: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst» (Aph. 150: Beseelung der Kunst, MAM, KSA, 2, 144). Die säkularisierende Funktion der Kunst zeigt sich gerade in der «Verklärung» jener Vorstellungen «welche wir jetzt als falsch erkennen». Dennoch wären die Künstler aller Zeiten nicht zu dieser Verklärung fähig gewesen «ohne den Glauben an die absolute Wahrheit» jener falschen Vorstellungen. Die großen Kunstwerke der Menschheit «wie die divina commedia, die Bilder Rafael’s, die Fresken Michelangelo’s, die gothischen Münster» setzen «nicht nur eine kosmische, sondern auch eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte» voraus (Aph. 220: Das Jenseits in der Kunst, MAM, KSA, 2, 180). Bleibt diese große Kunst auch für Nietzsche der absolute Maßstab, so ist sie doch dazu verurteilt, in den Gewändern und unter der Maske einer kleinen Kunst ein unbedeutendes Dasein zu fristen, sobald die Aufklärung sich in einem Zeitalter der Arbeit verwirklicht hat. Im Aph. 170 (Die Kunst in der Zeit der Arbeit) aus Der Wanderer und sein Schatten stellt Nietzsche fest, dass die Kunst in unserem «arbeitsamen Zeitalter» «Sache der Musse, der Erholung» geworden ist. «Die große Kunst versucht, in einer Art Vergröberung und Verkleidung, in jener anderen Luft heimisch zu werden […], die eigentlich nur für die kleine Kunst, für die Kunst der Erholung, der ergötzlichen Zerstreuung das natürliche Element ist». Wenn sie zu einem solchen Dasein bereit ist, werden wir immerhin die Möglichkeit haben, einmal wieder «volle Fest- und Freudentage in das Leben ein[zuführen]». Dann aber wird «unsere große Kunst unbrauchbar sein [...]» (WS, KSA, 2, 623-624). Die Festtage, von denen hier die Rede ist, sind nichts anderes als jene «Gedächtnisfeste», bei denen laut Aph. 223 aus MAM die «rührende Erinnerung» an eine in das Stadium ihrer Abendröte eingetretene Kunst zelebriert wird.
2015
Das Ende der Kunst als Anfang freier Kunst
201
211
Gentili, Carlo
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